Leseprobe:

(Wilhelm Ostwald: Lebenslinien - eine Selbstbiographie. Band 3. Großbothen und die Welt: 1905-1927. Berlin: Klasing,1927, S. 339 - 349, Auszüge aus Kapitel 11: Weltkrieg und Revolution)

 

 

Im Frühling 1914 feierte die königliche Gesellschaft der natürlichen Wissenschaften in London ihr vierteltausendjähriges Bestehen als eine der ältesten derartigen Vereinigungen ...  Zu der Feier waren die Schwesteranstalten aller Kulturländer, die Universitäten usw. eingeladen, die alle Vertreter schickten. ... Die Zusammenkunft brachte mich wieder mit einer Anzahl von Freunden und guten Bekannten zusammen, die ich früher bei ähnlichen Gelegenheiten kennen gelernt hatte. Ich konnte dabei feststellen, dass es eine ziemlich scharf begrenzte Gruppe wissenschaftlicher Persönlichkeiten gab, die stillschweigend als international anerkannte Vertreter ihrer Wissenschaft angesehen wurden, und die sich bei solcher Gelegenheit immer wieder zusammenfanden. ...  Doch war der Zustand schon elektrisch. ...

 

Im August 1914 brach plötzlich der Weltkrieg los, mir und fast allen Deutschen völlig unerwartet. ... In diesem Zusammenhange schließe ich die Mitteilung an, dass ich während der Kriegszeit niemals irgendwelche chemische oder andere Arbeiten für Kriegszwecke zu machen gehabt habe. ... Ich hebe dies hervor, weil während der Kriegszeit ein lange durchgeführter Verleumdungsfeldzug auf feindlicher Seite gegen mich stattgefunden hat, ... Es gab ganz ausführliche Beschreibungen, dass ich in meinem Großbothener Laboratorium mich eifrig damit beschäftige, Zündmischungen herzustellen, mit denen man Dörfer schnell und erfolgreich niederbrennen könne, und was des Unsinns mehr war. ...

 

Als die unabwendbare Tatsache des Krieges vorlag, hoffte ich auf einen Sieg Deutschlands, wenn auch nach schwerstem Ringen. Von meinem Standpunkt des energetischen Imperativs aus musste ich ja den Krieg als die ärgste Form der Energievergeudung verurteilen. Aber ich sagte mir, dass von allen Kriegen des letzten Jahrhunderts der Preußisch-Österreichische und der Deutsch-Französische verhältnismäßig die geringsten Energieverluste bewirkt hatten, ... Ich musste also auch ganz abgesehen von meinen vaterländischen Gefühlen als Deutscher unseren Waffen im Interesse der Kultur den Sieg wünschen. ...

 

Die Umwälzung von 1918 erlebte ich mit sehr gemischten Gefühlen. Ich war damals durchaus demokratisch gesinnt, hatte also gefühlsmäßig nichts gegen den Vorgang einzuwenden. Aber ich wusste aus der Wissenschaft, dass jede unstetige Wegänderung einen starken Energieverbrauch bedingt, den in solchen Fällen immer das Volk zu tragen hat. Und aus der Geschichte wusste ich, da niemals eine Revolution unmittelbar zu besseren Zuständen geführt hat, was eben durch den sehr vermehrten Energiebedarf der neuen, mit endlosen Reibungen behafteten Verhältnisse bedingt ist. ...

 

Dass beim Friedensschluss Männer maßgebend wurden, welche vom diplomatischen Handwerk nichts verstanden, hat jenen ungeheuerlichen „Frieden“ über uns gebracht, dessen Zweck eine Fortsetzung der Feindseligkeiten gegen das Deutsche Volk mit unblutigen Mitteln ist. ... Bei weitem das beste wäre, wenn die unmittelbare Berührung zwischen Deutschland und Frankreich aufgehoben werden könnte. Hierzu wäre nötig, das Elsaß ... zu neutralisieren ebenso wie Lothringen. Es würde sich dann zwischen Deutschland und Frankreich ein breites Band neutralen Landes hinziehen, welchem Luxemburg und Belgien einerseits, die Schweiz andererseits sich anschließen würde, um für alle Zukunft einen Deutsch-Französischen Krieg zu verhindern.

 

 

 

 

 

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